ECCE HOMO

Eyes up – der Auftakt des Katalogs der Fotografin Anna Kirsch ist gleichzeitig Ouvertüre, Credo und Crescendo. Da ist der Blick, der sich öffnet und in der Weite des blauen Offs ein Objekt fokussiert, einen Vogel, einen Gleitschirm, ein Flugzeug. Wolken geben einen Fleck Himmel frei, das Blau lässt ein Stück Watte davontreiben. Weite wird empfunden, wenn man das Gefühl der Enge kennt, das Einzelne wird sich selbst gewahr im Vielen. Detail und Ganzes, nah und fern, Festhalten und Davonfliegen: Assoziiert man mit der Weite des Himmels die Vielfalt der Möglichkeiten, die Option des Freiwerdens und Davonschwebens, konzentriert sich die nächste Bilderserie auf die Symbolik des Stehens und Haltens. Etwas hat Hand und Fuß, sagt man, wenn es solide gebaut ist, durchdacht ist und Sicherheit garantiert. Himmel und Erde tauchen hier als zwei Prinzipien auf: Schwerkraft und Schwerelosigkeit, beides für sich mag beängstigend sein, in der Gemeinsamkeit aber präsentieren sich alle Möglichkeiten eines Daseins zwischen Wunsch und Realität. Auch die Heimat entfaltet als Begriff eine Fülle an Emotionen: Da ist der Wunsch nach Halt und Gehaltenwerden, aber gleichzeitig auch die Wahrnehmung von Zwang oder innerer Unfreiheit. Gleich zu Beginn verdeutlicht die Reihe Eyes Up die Arbeitweise der Serie. Die Kamera behält ihre Position bei, wie in einem Laboratorium setzt sie die Rahmenbedingungen fest. In der Reihung, der Erfahrung kleinster Veränderungen, stellt sich die Struktur einer Entwicklung vor. Die Serie gewinnt ihre Stärke aus dem minimalen Wandel des scheinbar immer Gleichen. Für die Arbeit Twelve Months fotografierte Anna Kirsch ein Jahr lang um 7.20 Uhr eine junge Frau, die auf ihren Bus wartet. Jeder Tag beginnt neu, jeden Tag steht die Frau an der Haltestelle, doch welche Haltung hat sie heute, welche Kleidung trägt sie, hält sie die Arme eng um sich geschlungen, hört sie Musik, mit welchen Gedanken beginnt sie ihren Tag? Die Kamera ist als Beobachterin unsichtbar, nimmt aber eine Haltung der Empathie ein durch die Art und Weise, wie sie ihr Objekt allein durch die tägliche Wahrnehmung wertschätzt. Die Beobachtung ist für die junge Frau nicht spürbar, dennoch ist da jemand, der sie sieht und ihren Tagesanfang wahrnimmt, sie gleichsam in den Tag begleitet – und wieder loslässt. Der gewählte Bildausschnitt ist stets derselbe. Das Grau der Garage, die Beständigkeit der Umgebung zieht sich durch die Zeit. Einmal ist der Boden leicht schneebedeckt, der Schatten eines Strauches erzählt vom Licht des Tages. Hell und Dunkel verändern sich mit dem Jahr, das zwölf Monate lang voranschreitet. So ist die Bilderserie gleichzeitig ein Portrait der Zeit, die im Rhythmus eines Jahres vergeht und deren Ablauf der Mensch in seinem Dasein folgen wird. Der Sucher der Kamera stellt den Rahmen, in dem die Veränderungen sichtbar werden. Die junge Frau gleicht dem Zeiger einer Sonnenuhr, der seinen Schatten wirft und damit den Jahresablauf kennzeichnet. Sich unbeobachtet wähnend, wird sie zu einem Zeichen, das Beständigkeit und kontinuierliches Voranschreiten gleichzeitig verkörpert.

Die junge Frau in der Serie Twelve Months merkt ihr Beobachtet-Werden nicht. Die Menschen der Serie In Her Aprons aber stellen sich der Kamera bewusst zur Schau. Auf gleicher Augenhöhe stehen sie dem Objekt gegenüber und tragen eigensinnig ein Gewand, das ihnen nicht passt. Dabei zeigt sich der Mensch in einem Zeichensystem aus individuellem Daseinsanspruch und gesellschaftlichem System. Die Schürze als Zeichen der Arbeitsamkeit und Pflichterfüllung bietet nur wenig Variationsmöglichkeit. Ihr Muster, Schnitt und selbst die Farbigkeit illustriert das Erfüllen von äußeren Normen. Der Code der Schürze zeigt das Vorhandensein einer Erwartung, einer Rolle, in die man ohne zu wollen hineinwächst, in der man steckt, ohne sie sich ausgesucht zu haben. Das Kleidungsstück schaut grotesk aus, es ist zu lang, zu kurz, es hängt über die Knöchel, spannt über der Brust. Und doch ist es da. Seine Träger blicken selbstbewusst in den Sucher oder reagieren mit der Präsenz ihres Körpers: Hier bin ich, hier trage ich dieses Stück, es passt mir nicht, vielleicht werde ich es irgendwann los, aber es bricht mich nicht, ich bin ich, trotz alledem. Präsentiert sich eine Haltung hier als großformatiges, ganzfigürliches Konzept, wird in der Serie Heartbeats das Bruchstück zur Botschaft. Das Leben des Kindes wird nie ganz gesehen, es bleibt verschwommen. Die Bildkomposition ist in der Schräge, das Objekt rutscht aus dem Bild, der Blick bleibt verstellt. Im Labor der Serie zeigt sich das Bemühen, mit dem Leben Schritt zu halten, doch es entgleitet und geht seinen eigenen unerklärlichen Weg. Die Bilderserie ist eine konzeptuelle Elegie auf eine Bruchstelle, die unbegreifbar bleibt.

Zwischen offener Blende und der Konzentration auf den wehen Punkt bewegt sich die Arbeit von Anna Kirsch und begibt sich dabei abwechselnd in schmerzhafte Nähe und heilsame Distanz. Sie stellt sich der Ungewissheit in den Gesichtszügen einer schwerkranken Freundin und lässt sich fallen in den großflächigen, gegenstandslosen Detailaufnahmen von Pflanzen. Sie gibt dem Gefühl des Verlustes im fotografischen Konzept Ausdruck und findet Ruhe in der Ästhetik des Augenblicks in Form eines Holzzaunes, der den Rundungen einer Düne folgt. Dabei trägt das Prinzip der Dualität: Zaun und Wolke, Grenze und Freiheit, Mensch und gebauter Raum, Individualität und Konstruktion, Wand und Fenster, gebundene Fläche und Freiraum. Innen und Außen. Es ist eine Besonderheit der Arbeiten von Anna Kirsch, dass diese scheinbaren Gegensätze nicht gegeneinander stehen, sondern erst in ihrem Miteinander ein sinnvolles Ganzes ergeben. Alle Fotografien haben mit Menschen zu tun, auch die, in denen keine mehr vorkommen. Das Strandgut, von Unbekannten am Strand von Skibbereen aufgelesen und an den Ästen eines Baumes drapiert, wird zum Platzhalter für Geschichten, die sich nur mehr in unserer Vorstellung abspielen. Wer hat den Turnschuh einst getragen, wie kam er ins Meer, was hat sein Verlorengehen bewirkt. Es ist auf den ersten Blick ein lustiges Miteinander, ein Mobile der vergessenen Dinge, die sich vor dem Blau des Himmels heiter ausmachen. „Gedanken sind nur in Dingen“, sagte der amerikanische Lyriker und Schriftsteller William Carlos Williams. Das kleinste Detail kann Auslöser starker Bewegungen sein. Was wir vor allem wahrnehmen, ist eine Ode an den Verlust als Teil des menschlichen Lebens, in dem der Abschied täglicher Begleiter ist. Was im Kleinen verloren geht, hat vielleicht seine Auswirkung auf größere Zusammenhänge. Vielleicht sind es aber nur Dinge, die vermisst, dann ersetzt und vergessen werden. Auch dann ist es eine Parallele zum menschlichen Leben, in dem das Loslassen-können sich oft genug als Gnade erweist. Und gerade im Moment des Geschehenlassens eröffnen sich neue Wege, so wie das Strandgut durch den unbekannten Baumeister zu einem erfrischenden Miteinander findet.  Es gibt also die Begegnungen unterschiedlichster Arten: die Beobachtung des Objektes aus der Ferne, die Kommunikation im schmerzvollen Sich-nahe-Sein, das Erspüren von Nähe mittels eines Symbols, die direkte Gegenüberstellung von Betrachtetem und Betrachter und die Wahrnehmung des Menschen durch die Dinge, die er zurückließ.

In der Serie Burden kommt noch ein weiterer Aspekt dazu. Die Menschen bewegen sich auf den Fotografen und gleichzeitig den Betrachter zu. Manchmal scheint es, als gäbe es ein Wahrnehmen in Form eines Augenkontaktes, aber das ist nur ein Trugschluss. Betrachter wie Fotografin sind stumme Zeugen, die sehen, aber nicht am Geschehen teilnehmen. In dem Film „Himmel über Berlin“ des Regisseurs Wim Wenders begeben sich zwei Engel auf die Erde, um das irdische Leben wahrnehmen zu können. Sie streifen mit den Menschen durch die Stadt, hören deren Gedanken, teilen deren Empfindungen. Niemals aber ist es ihnen möglich, einzugreifen. Wo sie berühren möchten, bleibt es ihnen versagt. So nehmen sie wahr, begleiten und spüren den anderen, bleiben selbst aber unsichtbar. Die Kamera in der Serie Burden nimmt eine ähnliche Position ein. Die Frauen scheinen auf sie zuzukommen, manche hasten vorbei, bei anderen meint man, es müsse einen Moment der direkten Begegnung geben, ein Vorbeistreifen, einen Moment, an dem sich beide Leben treffen. Die Fotografin aber ist der unsichtbare Geist, durch den die Gestalten durch ziehen. Die Menschen aber hinterlassen einen Blick, eine Geste und eine Botschaft: Du könntest auch in meiner Haut stecken, mein Leben berührt in diesem Moment kurz das Deine. Was die Bilder sprechen lässt, ist ihre Präsenz in dem einen Augenblick. Dabei dauert dieser Moment nur eine Sekunde, es ist kaum möglich, in einer so kurzen Zeit das vorbeigehende Gegenüber zu erfassen, doch die Kamera hält die Zeit an. Aus dem Bruchteil einer Sekunde lässt sie einen Zeitraffer entstehen, der es ermöglicht, dem Gegenüber Fragen zu stellen. Wer bist du, was ist deine Freude, was ist deine Bürde?

In der Dualität der Erscheinungen und Erfahrungen ist die zwischen Leben und Tod die stärkste und härteste. Mehrere Serien haben die Erfahrung des Scheiterns, des Verlustes, des Lebenskampfes, des Todes zum Hintergrund.

Der Kunsttheoretiker Roland Barthes sieht in seinem berühmten Werk „Die helle Kammer“ in der Fotografie eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Vergänglichkeit. In der unweigerlichen Gewissheit, dass alles vergeht, bleibt das Foto ein Versuch, die Zeit anzuhalten und der Nachwelt ein „Es-ist-so-Gewesen“ mitzugeben. Den entsprechenden Moment, das ausschlaggebende Detail, das uns berührt und dadurch den Fortschritt der Zeit aussetzt, nennt er „punctum“: „punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“

Marks ist der Titel einer Bilderserie, über die Anna Kirsch sagt „Manchmal ist es einfach da, das Bild, mit dem ich einverstanden bin“. Ähnliche Beschreibungen finden sich auch bei anderen Fotografen. Berühmt ist die Äußerung von Henri Cartier Bresson über den „entscheidenden Augenblick“.

Die Kunst des Fotografen sei es, im richtigen Moment vor Ort zu sein und intuitiv als eine Art Medium den richtigen Augenblick zu spüren. Bei den Arbeiten der Serie Marks handelt es sich um ein Wahrnehmen vorhandener Strukturen, die im gemeinsamen Ensemble eine Aura der Melancholie verströmen. Der fotografische Blick nimmt das Miteinander einer abblätternden Fassade, einer alten Ziegelmauer und die lockeren Rundungen eines hängenden Gartenschlauchs wahr. Da ist die vergessene hellrote Plastiktüte, an eine graue Betonsäule gelehnt. Die Frau, die, an den Rand gedrängt zwischen der Struktur des Wassers, der Pflasterung und der Linie eines Geländers, sich fotografierend ein Bild von der Welt macht und mit dieser Aktion eine Haltung der Begegnung initiiert. Da ist die Perspektive von oben auf den Werktisch, auf dem die Vielfalt der Materialien eine Fülle von Arbeit skizziert, die gerade pausiert. Im Kontrast zwischen den kleinen geschäftigen Dingen der Arbeitsfläche und der Fläche des Steinbodens macht sich eine Abwesenheit bemerkbar. Etwas darf warten, etwas hat Zeit. Auch in den „Marks“ laden Dinge mit ihrer besonderen Struktur, ihrer Farbigkeit, ihres So-seins zum Betreten eines Empfindungsraumes ein, der sich aus dem Benennen von gegensätzlichen Zeichen aufbaut. Da sind das sich biegende Dünengras und die statische Hauswand, die grafische Linie der Stromleitungen und die sanfte Weichheit einer Wolke, das leicht verhangene Fenster, das mit seiner Öffnung ein Draußen im Drinnen verspricht. Alle Fotografien vergegenwärtigen Momente, die fortan im Bild existent bleiben. Gleichzeitig wird gewiss, dass die Wirklichkeit voranschreitet, vergehen wird oder schon vergangen ist und die Fotografie aber, wenn sie das Barthsche punctum enthält, für immer und ewig den Augenblick des Erkennens bewahrt. In seinen Schriften über die Fotografie stellt Roland Barthes eine eigenwillige Korrelation auf: Wo andere meist die Fotografie in die Nähe zur Malerei rücken, sieht er eine Verbindung zum Theater. Hergeleitet wird diese Nähe zum einen mit der Eigenart der Fotografie, die Vergänglichkeit aufzuhalten und dem Tod in die Augen zu schauen, dadurch, dass sie einen Moment authentischer Erinnerung einfängt. Zum anderen mit der Entstehung des Theaters aus dem Totenkult, das dem Vorgang des Ablebens ein Gesicht gibt. Der Fotograf, indem er durch seinen Sucher blickt, schaut auf eine Bühne des Lebens, das mit dem Tod endet, um ein Stück davon zu bewahren. Das Theater als Schauplatz der Blicke, Gesten und Themen greift alle Bereiche menschlichen Daseins auf: die Schönheit, die Liebe, den Neid, den Kampf, die Lust, den Schmerz, die Entscheidung, den Zwiespalt, Verrat, Hoffnung, die Jugend, das Alter, die Strafe, den Tod. Der Sinn und Auftrag der antiken Tragödie aber lautete Katharsis, Lernen am Beispiel, Milde erfahren durch Teilhabe am Schicksal anderer, Läuterung, Heilung. So entsteht auch die fotografische Arbeit von Anna Kirsch aus innerer Notwendigkeit. Sie ist Erkenntnisarbeit und Lebensauftrag und sucht mit den Mitteln des fotografischen Bildes nach Verständigung, Verarbeitung, Kontakt und Begegnung.

Dem einzelnen Bild als Ausschnitt fehlt die Ganzheit einer dramaturgischen Handlung, aber indem man in der Sensibilisierung auf den Augenblick das Ausschnitthafte des Lebens erkennt und annimmt, schließt es sich zum Ganzen. Die Rolle des Fotografen, der allen Stimmen lauscht, aber selbst nicht gehört wird, mag eine einsame sein. Aber sie gibt hörbar einen Auftrag an den Betrachter weiter, die Aufforderung zur Teilnahme, zum Mitgefühl. Der Betrachter vernimmt den Aufruf aus dem Off: Das könnte auch dein Leben sein, dein Blick, deine Geste, dein Verlust, deine Freude. Und jene Fremde könntest du selber sein.

Irene Fritz schrieb das Vorwort zum Katalog, der 2014 erschienen ist. Bestellung bitte per email.